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SEHTEST
          Gruppenausstellung in der DavisKlemmGallery


          Text von Linda Traut, Kunsthistorikerin M.A.
          mit Werkangaben und Ergänzungen zu den Künstlern in Kursiv



          Die DavisKlemmGallery lädt mit neun Künstlern zu einem Sehtest ein. Neun ver-
          schiedene Positionen befassen sich mit dem Thema der Sehgewohnheiten und
          stellen diese in Frage. Unsere Umwelt ist sehr stark visuell geprägt. Warnhinwei-
          se, Werbung. Die Wahl unserer Kleidung, unseres Zuhauses, unseres Partners,
          unserer Politiker ist zu großen Teilen von visuellen Eindrücken beeinflusst. Umso
          größer ist die Bedeutung unserer Sehgewohnheiten und Sehfähigkeiten.

          Michael Craig-Martin führt uns mit seinem Leuchtkasten „eye test“ eine klassi-
          sche Testanordnung wie beim Augenarzt vor. Statt Zahlen und Buchstaben sehen
          wir hier aber Objekte unseres modernen Alltags, des Konsums. Handy, Modear-
          tikel, Fastfood – erkennen wir diese Objekte vielleicht besser, weil wir uns daran
          gewöhnt haben, sie täglich zu sehen? Daneben spielt auch die digitale Kultur eine
          Rolle: die Reduktion auf kleine Symbole, Icons wie sie in sozialen Medien üblich
          sind, sind längst Teil einer neuen Sehgewohnheit geworden – unabhängig von der
          individuellen Nutzung dieser Medien.

          In ähnlicher Weise bedient sich Iván Navarro dem Format eines Sehtests mit klei-
          ner werdenden Buchstaben. Im Gegensatz zu den Tafeln beim Augenarzt ergeben
          diese Buchstaben Worte und einen Sinn. Dass diese durch die Anordnung teilwei-
          se auf den ersten Blick schwer zu entziffern sind, verstärkt ihre Einprägsamkeit.
          Unsere Sehgewohnheit bringt uns dazu, von den riesigen ersten Lettern bis zum
          letzten klein geschriebenen Wort zu lesen. Sie ziehen uns automatisch in den Text
          hinein. Die farbigen Querstreifen strukturieren die Sätze, fungieren wie Kommata
          in den Parolen. Und sie sind die kleinen Störungen für unsere Sehgewohnheit, die
          es vielleicht schaffen, unseren Blick zu öffnen für die Ästhetik der Schriftfonds,
          für die poetische Wortwahl oder die Form der Buchstabenanordnung.


          Zu Michael Craig-Martin: geboren 1941 in Dublin; lebt und arbeitet in London. Cra-
          ig-Martin gehört zu den einflussreichsten Hochschullehrern und Künstlern Groß-
          britanniens. Charakteristisch für viele seiner Werke ist die minimalistische Darstel-
          lung von (Alltags-) Objekten in leuchtenden Farben, die die Objekte in einem neuen
          Licht erscheinen lassen.
          Zu Iván Navarro: geboren 1972 in Santiago, Chile; lebt und arbeitet seit 1997 in
          Brooklyn, New York. Aufgewachsen unter der Militärdiktatur Pinochets (1973-
          1990). Diese Erfahrungen spielen in seinem Werk eine bedeutende Rolle.

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