Page 9 - NAGELNEU - KUNST AUS DEM JAHR 2020
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Nagelneu  - Kunst aus dem Jahr 2020
          Gruppenausstellung in der DavisKlemmGallery

          Text von Linda Traut, Kunsthistorikerin M.A.
          mit Werkangaben und Ergänzungen zu den Künstlern in Kursiv

          Einleitung
          Im Anschluss an die vergangene Ausstellung „Sehtest“ in der DavisKlemmGallery
          wurden die Sichtweisen der Welt auf ganz neue Art in Frage gestellt. Durch die Ent-
          wicklungen der Coronapandemie entstand ein neuer Blick auf viele Dinge des privaten,
          öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens. Auch der Aspekt des Umweltschutzes rückte
          in besonderer Weise in den Fokus.
          Auch für Künstler und die Kunstwelt entstand eine neue Situation. Obwohl viele bil-
          dende Künstler die Isolation zur kreativen Produktion brauchen, ergaben sich durch
          die Absage oder Digitalisierung von Ausstellungen spannende bis prekäre Situationen.
          Manche Werke reflektieren die Krise ganz konkret, andere sind die Fortführung beste-
          hender Serien. Was sich jedoch vor allem geändert hat, ist unser Blick auf die Werke
          und die Themen, die sie aufwerfen.

          1 Julian Opie
          Die neue Edition „Standing People“ von Julian Opie ist eindeutig vor Corona und Ab-
          standsregelungen entstanden. Dicht beieinander stehen die Wartenden. Berühren sie
          sich? Nur auf den ersten Blick, denn Opie täuscht die Sichtweise des Betrachters. Durch
          die Tiefe des Werks, die durch verschiedene Ebenen entsteht, berühren sich die, frontal
          als überschneidend wahrgenommenen, Figuren nicht. Und ist da nicht auch ein Mund-
          schutz? Unsere veränderte Wahrnehmung zum Abstand zwischen Menschen lässt uns
          diese Fragen stellen.

          Ansonsten würde uns vielleicht die Einsamkeit von Opies Figuren auffallen. Nicht nur
          die einzelnen Passanten scheinen alleine, ohne Kontakt. Auch als Teil der Wartenden
          bleibt jeder für sich: gekreuzte Arme, abgewendete Blicke, ablehnende Körperhal-
          tungen. Hier findet kein sozialer Kontakt statt, auch wenn er physisch nahe liegt. Die
          leuchtenden Farben und kräftigen Linien können nicht über eine gewisse Melancholie
          hinweg täuschen. Worauf wird gewartet? Wohin wird gegangen? Die verschlossenen
          Figuren verraten es nicht und auch ihre Umgebung bleibt im Ungewissen – auch einsa-
          men Figuren nehmen sie nicht wahr. Unter dieser Perspektive kann man fragen: braucht
          es erst ein social distancing, einen physischen Abstand, um unsere psychische Distanz
          zu unserer Umwelt wahrzunehmen?

          Zu  Julian  Opie:  geboren  1958  in  London.  Julian  Opie  gehört  zu  den  erfolgreichsten
          zeitgenössischen Künstlern Großbritanniens. Seine Experimentierfreudigkeit mit alten
          und neuen Techniken spiegelt sich in seinem Oeuvre, das von Fassaden-großen LED Vi-
          deo-Installationen bis zu mit Laser geschnittenen Bildern reicht.


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