Page 15 - Mary Bauermeister - No fighting on Christmas
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Auch für die Arbeit an den hier gezeigten Zeichnungen „No Fighting   So absurd und komisch ihre Fantasiewesen auch aussehen mögen, bei
                                 on Christmas“ (während des Ersten  Weltkrieges ließ man erstmals   genauerem Hinsehen bleibt einem das Lachen im Halse stecken und
                                 an Weihnachten die Waffen ruhen), hat sie sich eine besondere Ar-  man spürt die handfeste Gesellschaftskritik. Bauermeisters Wunsch,
                                 beitsmethode überlegt, die sie zu einem völlig neuen Produktionspro-  gesellschaftskritisch zu betrachten, war auch der Anlass, sich für eine
                                 zess führen sollte. Sie möchte keine klassische Figurenszene anlegen,   figürlich-gegenständliche Darstellungsweise zu öffnen. Blickt man in
                                 sondern in gewisser Weise die „amerikanische Seele“ einfangen, die   ihrem Werk rückwärts, wird man außer der „zeichnenden Hände“ kei-
                                 Essenz der Denk- und Lebensweise des amerikanischen Volkes. Dazu   ne figürliche Darstellung in ihren Arbeiten finden.
                                 entwickelt sie eine Art Kombinationsmuster, eine Methode, Figuren,
                                 die normalerweise nicht zusammengehören, miteinander verschmel-   Als Mary Bauermeister Anfang der 1960er-Jahre barfuß und mit lan-
                                 zen zu können.                                                    gen blonden Zöpfen durch New York wanderte, nannte man sie „Ms.
                                                                                                   Cornflakes“. Sie jedoch hat sich in den beinahe zehn Jahren, die sie,
                                 Wir sehen am linken Rand der Zeichnung „original combination dra-  wenn auch mit Unterbrechungen, in New York und auf Long Island
                                 wing“ sechzehn Figuren, die mehr oder weniger typisch für das Ame-  verbrachte und die beruflich äußerst erfolgreich für sie waren, nie von
                                 rika der 1960er-Jahre sind, wie beispielsweise ein Hippie, der dama-  der amerikanischen Ideologie vereinnahmen lassen. Sie ist ihr ganzes
                                 lige US-Präsident Lyndon B. Johnson, ein Baseballspieler, ein Soldat   Leben – bis heute – eine kritische, europäische Intellektuelle geblie-
                                 und ein passionierter Fernsehzuschauer. Mittels des rechts außen   ben. An dem von ihr beobachteten amerikanischen Wahnsinn scheint
                                 aufgezeichneten Schemas erklärt die Künstlerin, wie sie nun vor-  sich jedoch wenig verändert zu haben.
                                 gehen möchte: Jeweils die beiden übereinander stehenden Figuren
                                 verschmelzen miteinander, so dass aus sechzehn Figuren acht neue   Dr. Kerstin Skrobanek
                                 werden. Auch diese acht Phantasiewesen verschmelzen wieder paar-
                                 weise miteinander, genauso die verbleibenden vier, so dass uns die
                                 beiden entstandenen Wesen in der rechten Bildhälfte einen skurrilen,
                                 um nicht zu sagen völlig wahnsinnigen Anblick bietet: Ein Motorrad
                                 fahrender Präsident Johnson im Baseball-Trikot mit geschultertem Ma-
                                 schinengewehr, der gleichzeitig ein Hippie-Stirnband trägt und in der
                                 rechten Hand eine große bedrohliche Spritze hält. Mit Teufelsschwanz
                                 am Motorrad prescht er durch die Unglückszahl 13, die zugleich einen
                                 verschlüsselten Hinweis auf einen Baseballstar geben mag. Darunter
                                 als eine Art Antagonist ein vollbusiger gekreuzigter Christus in  Yo-
                                 gi-Sitzhaltung mit Gasmaske. Skurril-fröhlich lässt Bauermeister hier   Kerstin Skrobanek wurde mit einer Arbeit zum Werk Mary Bauermeisters an der Johann Wolfgang
                                 die unterschiedlichen Aspekte der amerikanischen Kultur, die sie Ende   Goethe-Universität in Frankfurt am Main promoviert. Die Dissertationsschrift ist online auf dem Ser-
                                                                                                   ver der Universität einsehbar unter dem Link:
                                 der 1960er-Jahre erlebt und wahrnimmt, aufeinanderprallen.        http://publikationen.ub.uni-frankfurt.de/frontdoor/index/index/docId/35011



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