Page 11 - Mary Bauermeister - No fighting on Christmas
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Bauermeisters und Stockhausens und die stark in der Alltagskultur Diese Funktion haben die Linsenkästen bis zum heutigen Tag: Durch
und der Materialästhetik verhafteten Werke der Amerikaner. Vor allem die Lupen und Linsen macht Mary Bauermeister auf Themen aufmerk-
die Werke Rauschenbergs und Johns’, haben Mary Bauermeister nach- sam, die ihr am Herzen liegen oder sie beschäftigen. Die Objekte
haltig beeindruckt. Wo derart experimentelle Arbeiten als Kunstwerke werden zu einer Art visuellem Tagebuch. In der hier in Wiesbaden ge-
akzeptiert wurden, wollte sie arbeiten, hatte sie doch selbst bereits zeigten Ausstellung lenkt Mary Bauermeister unsere Aufmerksamkeit
Natur- und Alltagsfunde in ihre Arbeiten integriert. auf den US-amerikanischen, 1891 geborenen und 1980 gestorbenen
Schriftsteller und Maler Henry Miller. Wurden Bauermeisters Werke
Kurz darauf, im Oktober 1962, bekam sie die Gelegenheit dazu, sie zuerst in den USA anerkannt und erst mit 10-jähriger Verspätung in
konnte mit Stockhausen und seiner damaligen Frau Doris nach New Europa, ging es Henry Miller genau umgekehrt. Er konnte seine in den
York reisen. Dort gefiel es ihr so gut, dass sie – für eine unverheiratete 1920er- und 1930er-Jahren geschriebenen Bücher zunächst nur in Paris
und zunächst noch mittellose Frau damals ein enormer Schritt – die publizieren, in den USA blieben sie lange verboten. Sein „Wendekreis
Rückreise im März 1963 nicht antrat. Sie blieb in New York, verdiente des Krebses“, den er bereits 1934 geschrieben hatte, erschien in den
ihren Lebensunterhalt mit Malkursen an der Fairly Dickinson Univer- USA erst 1961. Versuchte die amerikanische Justiz einerseits, Miller
sity und brachte gleichzeitig ihre eigene Arbeit voran. Im Winter 1963 rechtlich zu belangen, wurde der Roman andererseits bei den Rezi-
wurde sie von der renommierten Galerie Bonino unter Vertrag genom- pienten zu einer Art Bibel der sexuellen Befreiung.
men – der Schritt zur professionell in New York arbeitenden Künstlerin
war vollbracht, denn Alfredo Bonino war ein auf der Upper Eastside Mary Bauermeister besuchte Henry Miller 1967 in Kalifornien und war,
etablierter Kunsthändler. Mit der Aufnahme in das Galerieprogramm so berichtet es der Linsenkasten, besonders von seiner 1945 ver-
gelang Bauermeister der Durchbruch auf dem New Yorker Kunstmarkt. öffentlichten Reiseschilderung „The Air-Conditioned Nightmare“ („Der
Alfredo Bonino sorgte dafür, dass alle namhaften New Yorker Museen klimatisierte Alptraum“) fasziniert. Miller musste aufgrund der politi-
– das Museum of Modern Art, das Guggenheim, das Whitney sowie schen Lage 1940 aus Europa in die USA zurückkehren. Um sich mit
das Brooklyn Museum – Werke von Bauermeister ankauften und die seinem Heimatland zu versöhnen, unternahm er gemeinsam mit dem
Künstlerin außerdem in wichtigen Ausstellungen vertreten war. Maler Abraham Rattner eine Reise in den Süden der USA und zeich-
nete seine Eindrücke auf. Bis auf wenige Ausnahmen wie New Orle-
Die Entwicklung der Werkgruppe der Linsenkästen, einer Kombination ans oder den Grand Canyon fiel sein Urteil ziemlich negativ aus: die
aus Zeichnung und Objekt, die zu Mary Bauermeisters Alleinstellungs- USA als ein grausames, steriles, langweiliges und monotones Land,
merkmal werden sollte, begann ebenfalls im Jahr 1963. Die Künstlerin das seine kreativen Köpfe schlecht behandelt. Das Cover der ersten
nahm die erste Ausstellung bei Bonino zum Anlass, ihre Idee einem Buchausgabe, das eine Slum-Hütte vor einem eleganten Wolkenkrat-
größeren Publikum zu präsentieren. Damals ging es ihr vor allem da- zer zeigt, spiegelt sehr schön den Hauptkritikpunkt Millers wider, die
rum, interessante Strukturen, die sie in der Natur gefunden hatte, extreme Kluft zwischen Arm und Reich. Die eindeutige Kritik an Ame-
quasi unter die Lupe zu nehmen, beispielsweise dem Publikum die rikas gnadenlosem Kapitalismus teilt Mary Bauermeister in Arbeiten
Schönheit eines Blattes zu zeigen. wie dem Art Investment Report. Auch Millers Auffassung vom geistigen
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